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2. Vorgeschichte: Der Beginn der europäischen Integration nach 1945
„Wir müssen etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa schaffen. Nur so können Hunderte von Millionen schwer arbeitender Menschen wieder die einfachen Freuden und Hoffnungen zurückgewinnen, die das Leben lebenswert machen. ... Der erste Schritt bei der Neugründung der europäischen Familie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein. ... Die Struktur der Vereinigten Staaten von Europa, wenn sie gut und echt errichtet wird, muss so sein, dass die materielle Stärke eines einzelnen Staates von weniger großer Bedeutung ist. Kleine Nationen zählen ebensoviel wie große und erwerben ihre Ehre durch ihren Beitrag zur gemeinsamen Sache. ... Gegenwärtig haben wir eine Atempause. Die Geschütze schweigen. Der Kampf hat aufgehört, aber nicht die Gefahren. Wenn es uns gelingen soll, die Vereinigten Staaten von Europa, oder welchen Namen sie auch immer tragen werden, zu errichten, müssen wir jetzt damit beginnen.“[3]
Schon am 19. September 1946 wurde die Idee eines gemeinsamen Europas von Winston Churchill, bis 1945 britischer Premierminister und einem der einflussreichsten Politiker der Zeit, wieder aufgegriffen. Welche Gestalt das neue Europa haben sollte, war zunächst zweitrangig. Wichtiger war nur, dass überhaupt ein Weg eingeschlagen wurde, denn die Gefahren und Probleme Europas waren durch den Sieg der Alliierten über das nationalsozialistische Deutschland keineswegs verschwunden. Überall auf dem Kontinent litten Menschen unter den Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs. Nahrung, Wohnung und Arbeit waren standen meist nicht in ausreichender Anzahl zur Verfügung. Zwischen den Siegern des Krieges, den USA und der Sowjetunion, kam es öfter zu Meinungsverschiedenheiten[4] und über allem stand die politische Forderung „Künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren, die zweimal ... unsagbares Leid über die Menschheit gebracht hat“.[5] Churchill hatte also Anlässe genug, auch für Europa eine Art Vereinte Nationen (gegründet 1945) zur Friedenssicherung und Wohlstandsentwicklung zu fordern.
Churchill hatte schon früher ein Konzept für das Zusammenleben auf dem europäischen Kontinent formuliert. Bereits in seiner Rede vom 21. März 1943 hatte er für die Nachkriegszeit den Plan eines europäischen Staatenbundes unter britischer Führung und unter Ausschluss der Sowjetunion vorgestellt, der aber vom US-Präsidenten Roosevelt abgelehnt wurde, weil er auf eine abermalige Aufteilung der Welt in Mächtegruppen abzielte, deren Vorläufer sich bisher als so unheilvoll für die Welt erwiesen hatten.[6] Die USA verfolgten stattdessen das Ziel „eine universelle Organisation [zu schaffen], der die dauerhafte Sicherung des Friedens anvertraut werden sollte ... Die Eingliederung Deutschlands in eine gesamteuropäische Ordnung sollte [nach der Neutralisierung des Nationalsozialismus] die letzte Etappe der Befriedigung des Kontinents werden.“[7] Diese ‚One-World-Strategie’, d.h. die Verantwortlichkeit einer Organisation für den Weltfrieden, blieb auf amerikanischer Seite dominierend.
Dabei verkannten die USA allerdings die Kraft und Entschlossenheit zur Weltrevolution des westwärts vordringenden Kommunismus. Es kam über die Frage von Ländergrenzen hinweg zu einer gesellschafts-ideologischen Konfrontation der Lebensformen. Dies war eine Entwicklung, die von keiner Weltorganisation beherrschbar war. Das Problem Europa hatte sich also mit dem Sieg über Nazi-Deutschland noch nicht gelöst, sondern nur verlagert. Wie sollten die westlichen Staaten politisch mit einer expandierenden, kommunistischen Sowjetunion umgehen?
Die Sowjetunion verfolgte bis in den Zweiten Weltkrieg hinein eine Politik, die die eigene Sicherheit gewährleisten und gleichzeitig einen möglichst großen Einfluss auf die Nachbarstaaten bringen sollte.[8] Gasteyger sieht fünf Ziele, die Stalin nach dem Krieg verwirklichen wollte und die das europäische Staatengefüge erheblich beeinflussten. Das waren erstens der Versuch, die an der russischen Westgrenze liegenden Staaten dem Einflussbereich Deutschlands zu entziehen; zweitens, die osteuropäischen Staaten nicht unter die Kontrolle ‚feindlicher’ Mächte geraten zu lassen; drittens sollte das in Zentraleuropa gewonnene Wirtschaftspotential durch die Errichtung eines umfassenden Kontrollmechanismus für den eigenen Wiederaufbau verwendet werden (eine Teilnahme der osteuropäischen Staaten am Marshall-Plan war damit von vornherein ausgeschlossen); viertens, die Abschirmung der Osteuropäer von dem Einfluss der westlich-kapitalistischen Welt und fünftens, die Erweiterung des kommunistischen Machtbereichs im Sinne der kommunistischen Weltrevolution.[9]
So ergaben sich am Ende des Zweiten Weltkriegs für ganz Europa nicht in Übereinstimmung zu bringende Konzepte. Wirklich Gewicht hatten dabei nur die USA und die UdSSR. Eine Aufteilung Europas war unumgänglich, wollte man nicht so kurz nach einem vernichtenden Krieg einen neuen über die Vorherrschaft in Europa beginnen.
Zunächst drängte der wirtschaftliche Zusammenbruch und die Versorgung mit den notwendigsten Dingen des Alltags zu Hilfsmaßnahmen. 1946 wurde von den Vereinten Nationen aus die Europäische Wirtschaftskommission gegründet (Economic Commission for Europe -ECE). Doch schon bald übertrugen sich die politischen und ideologischen Meinungsverschiedenheiten zwischen den USA, Großbritannien und der expandierenden UdSSR in diese Organisation, wodurch sie als Instrument für eine wirtschaftliche Zusammenarbeit aller europäischer Staaten unwirksam blieb. Spätestens jetzt mussten die USA erkennen, dass die bisherige ‚One-World-Politik’ scheitern musste. „Die Spaltung des Kontinents [war] bereits so weit fortgeschritten, dass das Ideal einer gesamteuropäischen Friedensordnung auf die Realität einer westeuropäischen Notgemeinschaft zusammengeschrumpft war.“[10]
Diejenigen, um die es eigentlich ging, die unter das ‚Gesamtkonzept Europa’ fallen sollten, die Europäer, spielten also zunächst eine untergeordnete Rolle. Entweder zu den Kriegführern oder zu den Angegriffenen gehörend und wirtschaftlich am Boden liegend, mussten die europäischen Staaten zunächst zuschauen, welche Zukunft die Alliierten für sie erdachten.[11] „Europa [hatte] seine Handlungsfähigkeit verloren ... und [war] zum Einflußgebiet und Kampffeld der großen Mächte geworden“.[12]Allerdings waren deren Europa-Konzepte, wenigstens im Prinzip, kein von oben oktroyiertes Gebilde, das in den betroffenen Staaten keinen Widerhall fand.
Die Idee einer europäischen Integration war nicht neu.[13] Schon in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts war eine Massenbewegung zur Einigung Europas, die Paneuropa-Union, von dem Österreicher Graf Coudenhove-Kalergi ins Leben gerufen worden, der 1922 das politische Manifest „Paneuropa, Ein Vorschlag“ herausgegeben hatte und sich nach 1945 schon bald wieder der Europa-Idee zuwandte.[14] Auch während des Nationalsozialismus beriefen sich Teile des Widerstands auf den Europagedanken,[15] so z.B. in der Schweiz, in den Niederlanden, in Polen und Dänemark, Italien, aber auch im deutschen Widerstand. Die Europa-Idee wurde durch den Totalitarismus auf dem Kontinent nicht nachhaltig zerstört und konnte in der Nachkriegszeit wieder aufgegriffen werden.[16] Aus dem Grund schalteten sich auch die Europäer in der Nachkriegszeit in die Debatte ein, wie ein neues Europa aussehen sollte. Deutlich wurde dabei die Kontroverse über den politischen Zusammenschluss der europäischen Staaten. Während die ‚Föderalisten’ ein politisch geeintes Europa (Bundesstaat) forderten, sahen die ‚Realisten’ in einer engeren Kooperation der Nationalstaaten (Staatenbund) die einzige Möglichkeit zum Schutz vor der kommunistischen Bedrohung. Die Abgabe von Souveränitäten und gar deren Übergabe an supranationale Institutionen war dafür seitens der ‚Realisten’ nicht notwendig und nicht gewollt.[17] Unter diesem Blickwinkel fällt auch die eingangs zitierte Rede Winston Churchills, die eine eindeutige Absage an den Föderalismus und zugleich die Wahrnehmung und Zementierung der Teilung Europas bezeugt.[18]
Als sich vom 7. bis 10. Mai 1948 verschiedene europäische Organisationen in Den Haag trafen und die beiden Europa-Konzepte der ‚Föderalisten’ (föderalistisch-sozialistisch) und der ‚Realisten’ (konservativ-nationalstaatlich) erstmals offen aufeinander trafen, hatte die Konsolidierung der sowjetischen Kontrolle in Osteuropa schon für feste (Landes-)Grenzen gesorgt und den ‚Föderalisten’ die Argumentationsgrundlage für einen gesamteuropäischen Zusammenschluss entzogen. So rückte „Churchills Plan für eine Westeuropäische Union ... dagegen als einzige Alternative in den Vordergrund.“[19]
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[3] R.S. Churchill, The Sinews of Peace. Post-War Speeches by W.S.Churchill, Cambridge 1949, S. 198f, zitiert nach der deutschen Übersetzung des Auswärtigen Amtes aus Gasteyger, Curt: Europa von der Spaltung zur Einigung, Darstellung und Dokumentation 1945-2000, vollst. überarb. Neuaufl., Bonn 2001, S. 43f.
[4] Weidenfeld sieht aber gerade in der Konfrontation zwischen den USA und der UdSSR einen Motor zur Integration, einen Zwang zur Gemeinsamkeit, wenn er sagt: „Natürlich wäre sie [die europäische Integration; B.B.] ohne die geschichtliche Sondersituation des Niedergangs der europäischen Staaten im Zweiten Weltkrieg und ihrer unmittelbar danach entstandenen Frontstellung zur Sowjetunion nur schwer vorstellbar gewesen.“ (Weidenfeld, Werner: Europa – aber wo liegt es?, in ders., Handbuch-Europa, Bonn 2002, S. 21.)
[5] Aus der Präambel der Charta der Vereinten Nationen (Zitiert nach: http://www.uno.de/charta/charta.htm; Download: 31.3.03).
[6] Vgl. Gasteyger 2001, S. 31. Gasteyger betont, dass sich Churchills Äußerung nicht primär gegen die Sowjetunion gerichtet hätte, sondern dass Europa eine ausgleichende Funktion zwischen den Großmächten (USA, Sowjetunion, Großbritannien) einnehmen sollte.
[7] Gasteyger 2001, S. 32.
[8] Als Beispiel dafür dient z.B. der Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939, der sowohl einen Nichtangriffspakt wie die Aufteilung Polens besiegelte.
[9] Vgl. Gasteyger 2001, S. 45f.
[10] Gasteyger 2001, S. 33f.
[11] Einige Staaten mussten natürlich auch erst einmal wiederhergestellt werden und waren bei Kriegsende faktisch nicht mehr vorhanden.
[12] Schieder, Theodor: Europa im Zeitalter der Weltmächte, Europäische Bewegung und europäische Institutionen, in: ders. Handbuch der europäischen Geschichte, Europa im Zeitalter der Weltmächte, Stuttgart 1979, Bd. 7, S. 324.
[13] Würde man sich auf die Suche des Ursprungs einer europäischen Identität machen, müsste man sich bis in die Antike begeben und die Zeit bis zur Gegenwart untersuchen. Zu dem Begriff Europa und seinen Abgrenzungen, sowie zu den Wurzeln einer europäischen Identität siehe Weidenfeld 2002.
[14] Für ausführliche Erläuterungen siehe Schieder 1979, S. 323f.
[15] Vgl. Schieder 1979, S. 324f.
[16] Vgl. Gasteyger 2001, S. 29ff.
[17] Diese Kontroverse durchzieht die europäische Integration bis zur EU und bis zu einer möglich Verfassung im Jahre 2004 (oder später). Es stellt sich immer wieder die Frage, ob die Nationalstaaten bereit sind, eigne Souveränitätsrechte aufzugeben und sie europäischen Institutionen zu unterstellen.
[18] Wichtig zu erwähnen ist, dass der Bundesstaat europäischer Nationalstaaten (inklusive Deutschlands) mit einem gemeinsamen Rat als übergeordnetem Organ selbstverständlich ohne Großbritannien selbst gebildet werden sollte. Die Abgabe britischer Souveränitätsrechte war im Empire schlichtweg eine Unmöglichkeit. Churchill hatte in seiner Zukunftsvision die Aufteilung der Welt in Machtkreise vor Augen, die mindestens Nordamerika, Europa, Großbritannien und die Sowjetunion ausmachten.
[19] Gasteyger 2001, S. 36.
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